Neue Narrative

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Die Gesellschaft verständigt sich über sein generelles Handeln mittels sinnstiftender Erzählungen, sogenannte „Narrative“.


Große Erzählung”

Der Begriff “Narrativ” oder auch “Große Erzählung” geht auf den Philosophen Lyotard zurück, der sich dabei auf die auf Kant zurückgehende “Aufklärung” als das Mittel des Fortschritts, der sich für alle Menschen der Welt auszahlt, und auf Hegels “Fortschritt der Geschichte des Geistes”, die darin gipfelt, dass sie alle Erkenntnisse der Geschichte in ihren Institutionen und der Organisation der Gesellschaft zusammenfasst, bezieht. Lyotard spricht davon, dass diese “Großen Erzählungen” ihre Glaubwürdigkeit und damit Zugkraft verloren haben, was nach den Erfahrungen der Weltkriege und des Holocausts, die dieser Fortschritt offensichtlich nicht aufhalten konnte, leicht einleuchtet.



Kampf der “Erzählungen”

Nun erleben wir ein Aufleben faschistischer “Narrative”, die “Volk” und “Gewalt” als die legitimen Selbstbehauptungsmittel in die Gesellschaft hineintragen. Gleichzeitig erleben wir, dass das Narrativ vom wirtschaftspolitisch notwendigen Wachstum nicht abdanken kann, dass mit seinem Ignorieren der Wachstumsnebenwirkungen wie Umweltzerstörung, Krieg und Flucht zu der gegenwärtigen Situation geführt hat und sie weiter verschärft.



Wachstums-Narrativ

Die Gesellschaft hat sich eine fortschreitende Selbstlähmung zugemutet, indem sie sich abgesprochen hat, bewusst die eigenen Dinge regeln zu können, sondern auf die selbstregulierenden Mechanismen des Marktprinzips und Preisleistungsvergleichs als evolutionäres Prinzip vertraut. Diese Fehleinschätzung ist in ihrer Wegweisung durch gesellschaftliche Verwerfungen und Finanzkrisen erschüttert worden, und hat eine Sinngebungslücke hinterlassen, die ausgerechnet von den abgehalfterten sich selbst längst widerlegten Sinngebungen aufgefüllt werden.



Sinngebungslücke

Der Mangel eines Narrativs, das den Realitäten und den Erfordernissen des Wandels standhält, wird von sehr verschiedenen Seiten erkannt und beklagt, ohne, dass sich neue umfassende Narrative durchsetzen würden. Immerhin wird in Teilen daran gearbeitet, wie im Konzept der “Planetary Bounderies”. Bislang konnte es aber sich nicht gegen das Narrativ der Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wachstums durchsetzen. Anscheinend fehlt dem einen noch etwas, das dem anderen zugesprochen wird: eine tragfähige Organisation der Wirtschaft.



Erweiterte Formen des Narrativs

Meiner Ansicht nach sind Eigenschaften und Ausbaufähigkeit des gesellschaftlichen Konzepts “Narrativ” bislang nur ansatzweise entwickelt oder verbreitet, die helfen könnten, das Narrativ der planetaren Grenzen so zu ergänzen, das es die Meinungsführerschaft erlangen kann.

Um das zu verstehen, muss man weiter ausgreifen.



Kindheitsgeschichten

Als Freud die von seinem Arztkollegen Breuer entdeckte “Talking Cure” – wie sie dessen Patientin Bertha Pappenheim (in Freuds Schriften als „Anna O.“ anonymisiert) nannte – aufgriff und weiterentwickelte, und damit die Verknüpfung einer Erzählung mit unserem seelischen Zusammenhang, und der Verbindung der Mythen und Märchen mit der kulturellen Verfasstheit einer Gesellschaft aufklärte, bereitete er damit auch die Formulierung vom “Narrativ” Lyotards vor.



Umerzählte Vergangenheit

Im Laufe der Aufarbeitung von Freuds Erkenntnissen durch die Philosophie in Frankreich, wurde betont, dass es bei der Rückschau auf traumatische Erlebnisse bis hin in die Kindheit nicht entscheidend ist, dass diese Ereignisse tatsächlich erlebt wurden, sondern das entscheidend ist, dass die betroffene Person mit dieser Erzählung ein Selbstverhältnis gefunden hat, durch das es ihr möglich ist mit seinem Lebensalltag zurecht zu kommen. [Jacques Lacan]

Die Beziehung zwischen Erzählung und Seelenleben übertrug bereits Freud auf eine Gesellschaft als Ganzes und ihre kulturelle Selbstverortung. [z.B. in „Moses oder …, Tabu … ]

Das Verhältnis von den Einzelpersonen zu anderen, zu größeren gesellschaftlichen Einheiten und zur Welt insgesamt ist geprägt von Projektionen ihrer Prägung (ihrer Erfahrungen im Kleinsoziotop familiärer Auseinandersetzungen) und Selbstwahrnehmung auf diese größeren Einheiten. Redeweisen von “Mutter Natur” und “Vater Staat” lassen dies ahnen.

Inwiefern diese Projektionen in Variationen eines Narrativs enthalten sind, kann über ihren Erfolg entscheiden, weil sie einen Teil der mentalen Einbindung in das Narrativ ausmachen.



Landesgeschichten

Die Geschichtsschreibung eines Landes ist bis in die Vermittlung in den Schulen hinein nur in Grenzen einer gewissenhaften Aufarbeitung seiner Voraussetzungen geschuldet, sie war und ist immer auch Teil eines nationalen Narrativs, der Bestimmung eines “Erbes”. Darüber kann eine Elite einer Gesellschaft ein Selbstbild aufdrücken, mit dem sie sie für ihre Zwecke instrumentalisiert.

Aber je mehr verschiedene Menschen einer Gesellschaft über ihren kulturellen Austausch an den Formulierungen eines solchen Narrativs beteiligt sind, umso mehr kann sich etwas dabei herausbilden, was einem gesunden gesellschaftlichen Selbstverhältnis entsprich.

Dabei gibt es so Erscheinungen wie ein “entliehenes Erbe”. Hölderlins Griechenlandbegeisterung ist so ein Beispiel, wo das Erbe Griechenlands als das Deutschlands angeeignet wird, um dessen Erneuerung vorstellbar zu machen.



Heldenreisen

Kunst und Literatur tragen zur Formulierung eines einigenden Selbstverständnisses bei. Die Heldenepen gehören zu den ältesten Formulierungen solcher Narrative, worin manches Widersprüchliche in komplizierten Kompromisbildungen zur Lösung gebracht wird oder in ausgetüftelten Todes(rang)folgen mündet, die zur Demut mahnen oder nach Vergeltung schreien. Theaterstücke, Opern, Romane, Filme folgen.

Im Laufe der Entwicklung der Kinofilme bildete sich ein Erzählgerüst heraus, das für sich in Anspruch nimmt, überzeitliche Muster von Anfang und Ende, seelischer Herausforderung, Hybris und Läuterung vorzulegen: die „Heldenreise“ von Josef Campbel. Tragödien wie “Antigone” oder “Ödipus” zeugen dabei für die Möglichkeit der Verschränkung von persönlichem und kollektivem Schicksal.

So stehen ja auch reale Figuren des Öffentlichen Lebens und ihr Verhalten für ein erzähltes Selbsterleben, das durchaus entscheidende Zusammenhänge der gesellschaftlichen emotional bindet, aber auch von diesen ablenken kann. Namen wie Nelson Mandela, John F. Kennedy und Diana seien hier als Abriss möglicher Varianten genannt.

Dann wiederum gibt es immer wieder Persönlichkeiten, die wie Steven Biko Konzepte eines spezifischen Selbstbewusstseins etablieren können. Rosa Luxemburg galt als Welterklärerin, deren Erzählung von einem Gegner wie Papen als so stark eingeschätzt wurde, dass er ihre Eliminierung empfahl: “Die ist uns über.” Vielleicht lässt sich hier auch Helmut Schmidt als immer wieder gern im Fernsehn geladener Welterklärer anführen, der wie kein anderer einen mit allen Maßgaben der Vernunft, sprich Aufklärung, konformgehenden Neoliberalismus verkörperte.



Wertschätzungskämpfe

“Große Erzählungen” wie die der Aufklärung scheinen zunächst keinen Bezug auf Personen oder Bevölkerungsgruppen, auf Identifikationen oder Prestige öffentlicher Verkörperungen benötigt zu haben. Hegels “Geschichtsvollendung” bezog allerdings bereits Personen wie Napoleon als zentrale Akteure geschichtswandelnder Vorgänge ein und damit die Anerkennung ihrer Bedeutung.

Wenn wir hier die Kindheitsgeschichte als Facette von Narrativen einbeziehen wollen, wird aber die Einbeziehung der Würde von Personen, Milieus und Bevölkerungsgruppen zentral.

Das Erstarken der rassistischen Narrative – nicht ihr Ursprung oder das Milieu ihrer Dauerpräsenz – geht auf Demütigungen wie auf (aufgrund des neoliberalen Narrativs unvermeidlichen)Verlusten gesellschaftlicher Anerkennung zurück (Nicht zu verwechseln mit sozialen und finanziellen Zurücksetzungen!). In den neuen Bundesländern haben die Menschen nach dem Versprechen “blühender Landschaften” die Demontage ihrer wirtschaftlichen Basis und das folgende Errodieren ihres sozialen Milieus aufgrund der Abwanderungen qualfizierter Arbeitskräfte in den Westen oder die Städte erleben müssen. In den alten Bundesländern wurden über das Verdikt “Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.” den Arbeitslosen die Verantwortung für die Umbrüche des Fortschritts und die Verwerfungen nachlassenden Wirtschaftswachstums aufgelastet. Sie wurden moralisch deklassiert, als faul bezeichnet und öffentlich vorgeführt. Die Mittelschicht, die erfolgreich den Maßgaben des Neoliberalismus zu entsprechen vermochte, merkt, dass das damit verbundene Versorgungsversprechen brüchig geworden ist. Ihre Beschränkung auf die persönliche berufliche Karriere, Eigenheim und privaten Wohlstand hat sie zudem von der kulturellen Entwicklung eines Weltbürgertums ausgeschlossen. Sie erleben ihren kulturellen Anerkennungsverlust. [Andreas Reckwitz]

Die Geschichte jeder Kindheit ist maßgeblich auch die von Anerkennung und Demütigung. Es sind individuelle Prägungen eines Kindes davon, wie seine Existenz und sein Verhalten Anerkennung zugebilligt oder abgesprochen bekommen hat. Anerkennung ist existentiell, da sie anzeigt,wie weit jemand Unterstützung zu erwarten hat. Durch den Einstieg in die Gesellschaft erlebt der Mensch diese Anerkennung wesentlich in einer Situation der absoluten Hilfsbedürftigkeit. Während mit zunehmendem Heranwachsen eine gewisse Unabhängigkeit von zugesprochener Nähe und Hilfestellung erreicht wird. Gesellschaftlich bleibt eine gewisse Abhängigkeit in Form von zumindest einer Kooperationsbedürftigkeit, da, zugespitzt formuliert, wir weniger von der eigenen Arbeit leben, sondern mehr von der aller anderen. Oder besser gesagt, von dem Funktionieren des Zusammenspiels aller Arbeit.

Je mehr ein Mensch oder gar eine Bevölkerungsgruppe die persönliche Wertschätzung in der eigenen Kindheit als gefährdet erlebt hat, je mehr wird sie auch im Erwachsenenalter als gefährdet erlebt, je mehr bindet diese Gefährdungsgewahrung mentale Kräfte und intellektuelle Kapazitäten und umso mehr binden Auseinandersetzungen um Entwertungserlebnisse die sozialen Freiräume.

Wenn dazu Gewalterfahrungen hinzukommen, können Gewalthandlungen als notwendig empfunden werden, um eigene Bedürfnisse durchzusetzen.

Dieses Erniedrigungserbe durchzieht sämtliche gesellschaftlichen Kommunikationen, konterkariert Verständigungsprozesse und soziale Entwicklungen.

Je entspannter und selbstverständlicher dem Kind Wertschätzung entgegengebracht wurde, je entspannter und umsichtiger kann es später im Erwachsenenalter mit jeder Situation umgehen.

Entsprechend unterschiedlich ist dann auch die Anfälligkeit oder Aufgeschlossenheit für verschiedene Narrative, je nach dem welche Verständigungsmuster, sozialen Gesten und Charaktere diese berücksichtigen bzw. bevorzugen.

Wie gezeigt, hat sich statt gesellschaftlich grundlegender Wertschätzung wie sie dem Grundgesetzpassus von der Würde des Menschen entsprechen würde, eine Entwürdigungskultur etabliert, die vor allem eine solidarisch ausgerichtete Politik nicht gebrauchen kann.

Eine solidarisch ausgerichtete Gesellschaft beruht auf der gegenseitig stets erneuerten Versicherung der bedingungslosen Wertschätzung der Person des Anderen, auch wenn deren Verhalten und Handlungen nicht gebilligt werden. Das braucht eine besondere Balancierung der Wertschätzungen. Sie wird gewährleistet über den komplizierten kulturell vorbelasteten Tausch symbolischer Güter wie Höflichkeit, Anteilnahme, Zuhören, Wiedergutmachung, Unterstützung, Anerkennung von Leistungen oder Opfern, Zubilligung von … [Pierre Bourdieu]

Ein Narrativ, das diese Tauscherwartungen berücksichtigt, kann seine Akzeptanz und Wirkmächtigkeit erhöhen. Ein Narrativ über die planetarischen Grenzen, dass ein solidarisches Wirtschaften favorisiert, würde für diesen Fall, Rollenbilder anbieten, in denen sich verschiedene Charakterbilder wiederfinden und ihren Platz haben.



Sprachmaterial

Dabei kann sich die Verwendung der Sprache nicht auf eine Versachlichung der Auseinandersetzung um die gesellschaftlichen Verhältnisse beschränken, was Lyotards Rede vom Ende der großen Erzählungen wie der Aufklärung, die ja auf Versachlichung setzt, andeutet.

Worte wirken nicht allein über die ihnen sachlich zugedachten Bedeutungen, sondern über ihr ganzes Areal assoziativer Bezüge. Das ist ihre Materialität. Im Gehirn, um es so physiologisch auszudrücken, sind sie in all ihren Bezügen eingebunden, aus denen dann auf der Bewusstseinsebene die Beschränkung auf einen Bedeutungsgehalt genutzt wird.

Im öffentlichen Austausch wirken die Worte am nachhaltigsten, wenn die Vielfalt ihrer Verweise berücksichtigt wird statt sie auf eine ihrer Bezugnahmen zu beschränken.

Ein weiterer Gesichtspunkt ihrer Materialität ist ihre Eingebundenheit in den Körper des Menschen, dessen Gehirn die Erzählungen verarbeitet.

Wenn z.B. ein Patient Freuds träumt, dass sein Bruder im Schrank sitzt, und das selbst dahin deutet, dass er der Auffassung ist, sein Bruder schränke sich ein, dann hat in diesem Falle das Wort “einschränken” Bezüge über den Körper und seine Bewegungsmöglichkeiten; und über den buchstäblichen Bezug zum Schrank war es dem Gehirn möglich, ein (Traum-)Bild dafür zu entwerfen.

Sobald die Mehrdeutigkeit eines Wortes im Zentrum der Wahrnehmung steht, macht es Sinn, sich bewusst zu machen, dass natürlich viele seiner Bezüge im Moment seines Gebrauches ausgeblendet sind oder nur schwach mitschwingen, dass also die Gewichtung der Bezüge einer Momentaufnahme der Gedankenbewegungen entsprechen, die vielleicht in der Form nie wieder auftaucht. So wird bei Interviews gelegentlich darauf wert gelegt, dass mit der befragten Person nicht im Vorhinein die Fragen des Interviews durchgegangen werden, damit die spontane und authentische Antwort zur Verfügung steht und nicht bereits “verbraucht” ist, weil der Interviewte bereits, den Impuls, es zur Geltung zu bringen, verloren hat. So gehen manche Gedanken unwiederbringlich verloren, wenn sie nicht sofort notiert werden. So ist der Witz eines Gesprächs verloren, sobald den Beteiligten nicht mehr der Wortlaut in der Situation des Gesprächs einfällt.

Umgekehrt wirken Eindrücke, und dazu gehört auch das Hören oder Lesen eines Wortes, als Störung auf das momentane Gedankenkreisen und “weckt Assoziationen” heißt bildet Ketten zu Gedankenkreisen “im Hinterkopf”, die den bewussten Gedankengang ablösen oder sich mit ihm verbinden, sind also auch in der Lage weit aus einander liegende Gedanken in enge Beziehung zu setzen und so die Gedanken neu zu ordnen. Diesen Effekt darf ich hier vielleicht als den Transformationswert der Worte andeuten.



Narrativ-Notizen

Dieser Einfluss von Eindrücken wie Worten, der wenig willentlich beeinflusst ist, sondern physikalischen Gesetzen der Gehirntätigkeit folgt, begegnen wir am besten, indem wir selbst Routinen setzen, wo wir unseren eigenen Gedanken begegnen, wo sie nicht mehr Teil unserer momentanen Bewusstseinsvorgänge sind. Einfacher gesagt: wir gewöhnen uns an, unsere Gedanken zu notieren, um sie immer mal wieder zu lesen, um daraufhin die daraus entstehenden Überlegungen wieder zu notieren, um darüber wiederum unsere Gedanken weitergehend zu entwickeln, als uns das ohne Notizen möglich wäre.

Den unbedingten Nutzen dieses Vorgehens belegen verschiedene Beispiele:

An einer Schule mit Kindern und Jugendlichen, die so mit ihren familiären Problemen belastet sind, dass sie dem Unterricht nicht folgen können, wurde nahegelegt, Tagebuch zu schreiben, wobei ihnen freigestellt wurde, diese Notizen mit Lehrenden zu teilen, um sich darüber auszutauschen. Was diese als Selbstbemächtigung über ihr Leben erlebten.

Der Soziologe Niklas Luhmann verhalf seinen “Zettelkästen” zur Berühmtheit, bei dem er einzelne Gedanken auf Karteikarten notierte, die er in kleine Schubladen einstellte und hinundwieder herausgriff und umsortierte, um sich Anregungen für seine Arbeit an der Theorie der Sozialen Systeme zu holen, diese zu verfeinern und über sie hinauszudenken.

Um an dieser Stelle den Bezug zum Narrativ zu klären, sei gesagt, dass die Jugendlichen über ihre Notizen dem Narrativ vom “Schulversager” entkommen und eigene Narrative erarbeiten, die ihnen eine eigene Handlungsfähigkeit zugestehen.



Narrative “schreiben”

Nun mögen diese Ausführungen als Überdehnung des Begriffs des Narrativs empfunden werden, ich hoffe jedoch, dass bei der Zusammenführung und Abrundung der Überlegungen deutlich wird, warum diese Ausweitung sinnvoll ist.

Es geht um Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Mittel, den gesellschaftlichen Erfordernissen angemessene Narrative als maßgebliche den Vorrang gegenüber den vorherrschenden aber völlig untauglichen Narrativen zu verschaffen. Wer kann wie unter welchen Umständen dazu beitragen?

Die Narrative, ob nun als Tagebuchnotizen der Jugendlichen oder als gesellschaftlich heruntergebetete Glaubenssätze, stehen nicht für sich allein, sie stehen im Kontext einer Handlungsfähigkeit und Welterfahrung sowie der Diskussion ihrer Tauglichkeit.

Im Falle des Theoretikers mit seinen Zettelkästen stehen Theoretiker und Zettelkästen natürlich gleichermaßen im Zusammenhang der Entwicklung der Theorie und derer Bewährung innerhalb der universitären Diskussionen.

Wie stellt sich aber ein Selbstverhältnis dar, wenn es sich nicht, wie bei den vorgestellten Beispielen um Einzelpersonen mit ihren persönlichen Notizen geht, sondern um viele mit öffentlichen “Notizen”?



Narrativ-Orchestrierung

Was würde es bedeuten, diese Selbstverhältnisse auf die Gesellschaft oder zumindest auf den Teil der Bevölkerung, die eine gesellschaftliche Wende im Rahmen einer planetarische Verantwortung will, zu übertragen? Ein Teil dieser Selbstbesinnung findet bereits in Artikeln und anderer Art von Medienbeiträgen und Büchern statt, ein Teil in über die sozialen Medien verbreiteten Memes und Kommentierungen, die dann in Gesprächen, Abendveranstaltungen oder Vorträgen erwähnt, nacherzählt oder zusammengefasst und resümiert werden. Aber auch kulturelle Veranstaltungen allerlei Art schreiben an diesen Narrativen bzw. Elementen dieser fort.

Was wäre, wenn aber mehrere Personen gleichzeitig auf die gleiche Sammlung von Zettelkästen zugreifen würde, diese umsortieren, ergänzen und erweitern würden?

Das Internet erweitert die Möglichkeiten einer solchen Notizzettelkommunikation um Einiges.

Es enthebt weitgehend von den Beschränkungen öffentlicher und privater Räume, wie auch den Beschränkungen auf Abend-, Matinee- oder anderer Begegnungs-Zeiten. Zu jeder Tag-und-Nacht-Zeit vom privaten Raum zugänglich kann z.B. über ein Forum an einer Art Zettelkastensystem gearbeitet werden, kann Inspiration abgeholt und eingebracht werden.



Zitate


„Ein reanimierter Marx würde sein Werk an kaum einer Stelle so lassen, wie es uns überliefert

ist. Entsprechend hätte jeder Versuch, die heutige Wirklichkeit und ihre Fluchtpunkte mit dem theoretischen Instrumentarium zu erfassen, das er selbst 1883 hinterließ, mit beißender Häme des auferstandenen Marx zu rechnen. Zurück zu Marx heißt folglich vorwärts zum eigenen Denken, zur theoretischen Durchdringung der Gegenwart.“

“ Organische Aktivistinnen und Aktivisten müssen darauf bedacht sein, dass die wichtigen Funktionen erfüllt sind.

Die »Manager des Kollektiven« treffen den wunden Punkt der Gegner und orientieren die eigenen Kräfte so, dass zunächst kleine, später große Siege möglich werden.

Die »Trüffelschweine« entdecken die neuen, vorwärtsweisenden Phänomene und identifizieren, was zur Beförderung des eigenen Handelns kopiert werden kann.

Die »Elefantenjäger« bieten den gegnerischen Großideologen gedanklich die Stirn und

erringen Punktsiege im intellektuellen Kampf.

Die »Märchentanten und Wanderprediger« mahnen und begeistern, vermeiden den wehmütigen

Blick nach hinten und betonen die eigenen Kräfte.

Die »Medienzauberer« beschäftigen die Öffentlichkeit mit Geist und Kultur, mit Ästhetik und Witz.

Die »Clubbetreiber« organisieren geschützte Debatten, schaffen Räume für den vertrauensvollen Austausch und laden die Renegaten des Establishments ein.

Zivilgesellschaftliche Courage ist die große Hoffnung.“

(Hans Thie, Rotes Grün, Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft, VSA, Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung)


„Wenn wir den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens verstehen, wird es möglich sein, die Massen, ohne deren Wissen, nach unserem Willen zu kontrollieren und zu steuern.“

Edward Bernays


„Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist. Wir werden regiert, unser Verstand geformt, unsere Geschmäcker gebildet, unsere Ideen größtenteils von Männern suggeriert, von denen wir nie gehört haben. Dies ist ein logisches Ergebnis der Art wie unsere demokratische Gesellschaft organisiert ist. Große Menschenzahlen müssen auf diese Weise kooperieren, wenn sie in einer ausgeglichen funktionierenden Gesellschaft zusammenleben sollen. In beinahe jeder Handlung unseres Lebens, ob in der Sphäre der Politik oder bei Geschäften, in unserem sozialen Verhalten und unserem ethischen Denken werden wir durch eine relativ geringe Zahl an Personen dominiert, welche die mentalen Prozesse und Verhaltensmuster der Massen verstehen. Sie sind es, die die Fäden ziehen, welche das öffentliche Denken kontrollieren.“

Edward Bernays, Propaganda, Kapital Organising Chaos


„Mythen bewirken Transformation, indem sie Transformation erfahrbar machen. Der Held des Mythos wandelt sich im Lauf der Geschichte, und mit ihm ändert sich das Bewußtsein des Zuschauers.“ Peter Hant, Das Drehbuch, Seite 135


[Joseph Campbell]


„The words you speak

Become the house you live in.“ – Hafiz


„Der Republikanismus ist mehr als die Trennung der Gewalten, er verlangt die Spaltung und möglicherweise die Auflösung der populären Identität. Es geht dabei nicht mehr um eine bloße Repräsentationsangelegenheit. Vom Standpunkt der Sprache ist es eine Organisation von Satzordnungen und Diskursgenres, die auf deren Dissoziation beruht und dadurch zwischen ihnen „Spielräume“ läßt oder, wenn man lieber will, die Möglichkeit bewahrt, dem Ereignis in seiner Kontingenz Rechnung zu tragen. Ich nenne diese Organisation deliberativ. [= beratend]

Wie man bemerkt haben wird, ist in der traditionellen Erzählung die Kombination verschiedener, auf dem Spiel stehender Einsätze – glauben machen, wissen lassen, überzeugen, entscheiden lassen usw. – in der Homogenität des Ablaufs der ganzen Sache verborgen. Der organische – ich würde sagen: totalisierende – Charakter der Erzählung begünstigt die Analyse nicht. In der deliberativen Politik läßt sich die Anordnung von Diskursgenres und Satzordnungen zerlegen. Eine einfache und sogar naive Beschreibung der Momente der deliberativen Verfahrensweise wird Dir diese leicht verständlich machen:

a) Das oberste Ziel wird durch einen kanonischen Satz (sagen wir: den Einsatz) ausgedrückt, der eine interrogative Präskription bedeutet: Was sollen wir sein? Sie ist mit verschiedenen möglichen Bedeutungen beladen: glücklich, gelehrt, frei, gleich, mächtig, künstlerisch, amerikanisch? Die Antworten sind von der Geschichtsphilosophie ausgearbeitet und im politischen Bereich wenig diskutiert worden, sie sind aber unter dem Namen der „geistigen Familie“ trotzdem gegenwärtig.

b) An das Was wollen wir sein? Knüpft sich ein Was sollen wir tun, um das zu sein? Man geht von einer reinen, fast ethischen Präskription über zu einem hypothetischen Imperativ des Typus: Wenn du dies sein willst, dann tue das.

c) Diese letzte Frage fordert ein Inventar von Mitteln, wie man zu diesem Ziel gelangen kann: Analyse der Situation, Beschreibung des verfügbaren Potentials ebenso wie des Potentials von Partnern und Gegnern, Definition der jeweiligen Interessen. Es geht hier um ein ganz anderes, im eigentlichen Sinne kognitives Diskursgenre, nämlich um den Diskurs von Spezialisten, Experten, Ratgebern, Beratern, der in Form von Untersuchungen, Berichten, Meinungsumfragen, Indizien, Statistiken usw. herangezogen wird.

d) Wenn man diese Informationen, so vollständig wie die Natur des Spieles es erlaubt, erhalten hat, wird ein neues Diskursgenre benötigt, dessen Einsatz lautet: Was können wir tun? Kant würde darin eine Idee der Einbildungskraft (Anschauung ohne Begriff) sehen, Freud freie Assoziationen; wir nennen es Szenariomontagen oder Simulationen. Erzählungen im Irrealen.

e) Die eigentliche Beratung (délibération) findet über diese Szenarien statt. Sie unterliegt der Ordnung der Argumentation. Jeder Beratende ist darauf aus zu beweisen, daß und weshalb der andere im Unrecht ist. Dieses Genre nannte Aristoteles Dialektik. Auch die Rhetorik ist hier im Spiel. Die logoi oder Argumente werden mit den topoi oder klassischen Gemeinplätzen der Überredung verbunden. Man ist nicht nur darauf aus, den anderen zu widerlegen, sondern auch den Dritten (den Richter, den Präsidenten, die Wählerschaft in einer Demokratie) zu überreden.

f) Dann kommt das Entscheidungsmoment, das heißt das Urteil, nach Kants Meinung der rätselhafteste aller Sätze, der Ereignissatz par excellence. Es sind dies die Resolutionen, Programme, Abstimmungen, Schiedssprüche.

g) Das Urteil muss legitimiert werden – das ist die Rolle des normativen Diskurses (hat man das Recht, so zu entscheiden?) –, dann vollstreckbar gemacht (Dekrete, Erlässe, Gesetze, Rundverfügungen), und die Übertretungen müssen bestraft werden.


Diese Anordnung ist bezüglich ihrer Verknüpfungen – entgegen dem Augenschein – aufgrund der Heterogenität ihrer Bestandteile paradox: Wie kann ein präskriptiver Satz (Wir müssen) aus einem deskriptiven (Das können wir) abgeleitet werden? Wie kann an eine Präskription ein normativer Satz, der legitimiert werden soll, angeknüpft werden? In diesem Sinne gibt es eine Art Zerbrechlichkeit des deliberativen Dispositivs. Diese Zerbrechlichkeit wird verschlimmert durch die bedeutende Rolle, die die Erkenntnis spielt (Techno-Wissenschaft im Dienste der Politik), die selbst ständigen Beratungen der Wissenschaftler unterliegt. Vor allem aber liegt die Einheit der heterogenen Genres, die in dieser Organisation im Spiel sind, einzig und allein in der Antwort, die auf die ursprüngliche Frage: Was sollen wir sein? gegeben wird. Die deliberative Organisation widersteht der Teilung seiner Elemente nur deshalb, weil er das Organigramm des freien Willens, der reinen Vernunft ist.


Über die Ziele herrscht in der Republik prinzipiell eine Unsicherheit, eine Unsicherheit über die Identität des Wir. Wie Du gesehen hast, stellt sich in der narrativen Tradition die Frage der finalen Identität nicht: Die Cashinawa-Erzählung antwortet stets, daß wir sein sollen, was wir sind, nämlich Cashinawas. (Und die arische Erzählung antwortet auf dieselbe Weise.) In der Republik gibt es mehrere Erzählungen, weil es mehrere mögliche finale Identitäten gibt; und nur eine einzige Erzählung im Despotismus, weil es nur einen Ursprung gibt. Die Republik veranlaßt nicht zu glauben, sondern zu überlegen und zu urteilen. Sie fordert die Republik.

Die großen Erzählungen, die sie verlangt, sind Emanzipationserzählungen, keine Mythen. Genau wie diese besitzen sie Legitimationsfunktion, sie legitimieren Institutionen sowie soziale und politische Praktiken, Gesetzgebungen, Ethiken, Denkweisen, Symboliken. Im Unterschied zu den Mythen finden sie diese Legitimität aber nicht in ursprünglichen, „begründenden“ Akten, sondern in einer einzulösenden Idee. Diese Idee (der Freiheit, der „Aufklärung“, des Sozialismus, der allgemeinen Bereicherung) hat legitimierenden Wert, weil sie universell ist. Sie verleiht der Modernität ihren charakteristischen Modus: Das Projekt, das heißt den auf das Ziel gerichteten Willen.

Um diese Frage ausarbeiten zu können, müßte man Kants kleine Schriften zum Historisch-Politischen wieder aufgreifen […]

Man würde daraus den Sinn entnehmen, daß die Erzählung einer allgemeinen Geschichte der Menschheit nicht nach dem Modus eines Mythos bestätigt werden kann; daß sie an einem Ideal der praktischen Vernunft (Freiheit, Emanzipation) aufgehängt bleiben muß; daß sie sich nicht anhand von empirischen Beweisen, sondern nur anhand von indirekten Zeichen, analoga, die in der Erfahrung anzeigen, daß dieses Ideal in den Gemütern gegenwärtig ist, überprüfen lassen; und daß die Diskussion dieser Geschichte „dialektisch“ im Kantischen Sinne ist, das heißt ohne Schlußfolgerung. Das Ideal ist sinnlich nicht darstellbar, die freie Gesellschaft kann genausowenig gezeigt werden wie das freie Handeln, und in einem gewissen Sinne wird die Spannung zwischen dem, was man sein soll, und dem, was man ist, immer gleich stark bleiben.

[…]

Die Souveränität liegt nicht beim Volke, sondern in der Idee der freien Gemeinschaft.“

S.62ff

Lyotard, Jean-Francois, Memorandum über die Legitimität, in: Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart 1990, Reclam Verlag